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„Bevor Du liebst“ : Roman (Of such small differences ).
Von Hannah Green

„John ist taubblind. Er arbeitet in einer Möbelfabrik, schreibt Gedichte, lebt allein und trifft seine taubblinden Freunde im Gottesdienst. Eines Tages fällt er über Leda, eine Schauspielerin, die auch nicht ganz in die Norm passt. Eine Liebesgeschichte, die sensibel mit den Gefühlen und Gedanken der beiden Menschen umgeht und die doch die durch die Behinderung sich ergebenden Probleme deutlich beim Namen nennt.“

Hört man den deutschen Titel „Bevor Du liebst“ und liest den Klappentext, denkt man, „Ach ja, so ein schönes Märchen, der taubblinde Mann und die schöne, hingebungsvolle nicht beeinträchtigte Frau, wie süß.“
Der Originaltitel: „Of such small differences” kommt dem Inhalt schon näher, „Nur wegen solch kleiner Unterschiede“ oder „Aufgrund solch geringfügiger Unterschiede“, könnte man diesen Originaltitel übersetzen.
Hannah Green hat aus einer beruflichen Tätigkeit mit gehörlosen Menschen viele Erfahrungen gesammelt, welche sie in diesen Roman einfließen lässt.
Die Autorin versucht, die innere Wahrnehmungswelt eines taubblinden Mannes zu beschreiben, aus ihr heraus zu schreiben. Dies gelingt ihr, meines Erachtens, sehr gut!
Der Text ist anstrengend zu lesen, so anstrengend, wie das Erleben eines taubblinden Menschen wahrscheinlich ist.
Green schafft es zumindest in Zügen eine ganz andere Wahrnehmung zu erzeugen und so gibt es keine schönen langen Dialoge, keine Ausgiebigen Landschaftsbeschreibungen oder langen Gedankengänge, es ist oftmals sehr abgehackt, ein schneller Rhythmus, zack, zack. Ein kleines Beispiel von mir nachgeahmt: „Das ist smalltalk“ sagte sie in seine Hand. „Wort?“ - „Einfach so gesagt, keine wirkliche Bedeutung, nur, um zu reden.“
Hannah Green arbeitet die unterschiedlichen Wahrnehmungen heraus, gemessen daran, wann ein Mensch blind, gehörlos bzw. taubblind wurde, welche Kommunikationsmöglichkeiten, zur Verfügung stehen, welche Erfahrungshorizonte sich eingeprägt haben.
John spürt genau, dass seine Umwelt ihn meist nicht aufgrund seiner Kompetenzen sondern anhand seiner Defiziete definiert, ihn ab und an bewundert, meist aber bevormundet.
Natürlich fühlt er sich durch seine fehlende Seh- und Hörkraft eingeschränkt, Leiden aber verschaffen ihm die tatsächlichen Einschränkungen, welche ihm durch die Umwelt auferlegt werden.
Er ist stolz auf seine sieben Sinne, welche er wie folgt beschreibt:
„… „ich habe 7, genau wie Du.“ – „Welche?“ – „Ortssinn, Richtungssinn, Geruch, Berührung, Geschmack, Dauer und Rhythmus.““
Wunderbar wird beschrieben, wie genau John wahrnimmt in welcher Gemütslage die Menschen um ihn herum sind. Anhand ihrer Bewegungen oder an der Art, wie sie in seine Hand schreiben merkt er ob sie gut oder schlecht drauf sind, freundlich oder unfreundlich, geduldig oder ungeduldig offen oder verschlossen, ehrlich oder unehrlich.
Er fühlt genau ob Menschen sich wirklich mit ihm beschäftigen oder nur über ihn hinweggehen, ihn irgendwo hinschieben, ihn bevormunden, den Kontakt einfach abbrechen, diesen Kontakt gar nicht suchen.
Eindrucksvoll ist zu lesen, wie laut Taubblinde Menschen sein können, das laute Stampfen um sich untereinander zu finden, die lautstarke Art sich zu bewegen, das oftmals zu laute sprechen und das allseits gefürchtete Vibrieren, die wohl gerade zu lustvolle Art, die eigene Stimme vibrieren zu lassen um Freude, erregung, Zorn, Anspannung, Trauer auszudrücken.

Bevor du liebst : Roman (Of such small differences ).
von Green, Hannah.
Erschienen 1993 in Zürich im Diogenes-Verlag ISBN: 3-257-22625-X
Als Hörbuch in der Deutschen Blinden-Hörbücherei Signatur-Nummer: 19474
In Punktschrift (reformierte Kurzschrift) als 4-bändiges Buch in 448 Seiten.
Es wurde 2009 in der Blista gedruckt und hat die Verlags-Bestellnummer 5001404.
Ausleihbar bei der DZB in Leipzig, bei der SBS in der Schweiz und bei der Blista, dort ist es auch käuflich erwerbbar.

Heike Herrmann-Hofstetter

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