„Der nächste Schritt der Erblindung ist erreicht
Es bleibt dunkel, wenn es hell wird.
Es bleibt hell, wenn es dunkel wird.”
So beschrieb ich es vor einigen Jahren.
Nun ist ein weiteres Phänomen hinzugekommen.
Lichtquellen, die ich noch schwach wahrnehme, wie Tageslicht oder
Lampenschein, brennen sich vor meinem inneren Auge geradezu ein.
Lange nach Einbruch der Dunkelheit oder wenn ich in ein dunkles Zimmer gehe,
habe ich dieses Licht weiterhin vor Augen.
Es ist, als hätte ich einen Scheinwerfer auf dem Kopf, der dort,
wohin ich schaue, einen hellen Lichtstrahl hinwirft.
Als ich wusste, dass ich blind werde, hatte ich Angst vor andauernder
Dunkelheit. Dieses seltsame Licht vor Augen verunsichert mich nun, da es so
unnatürlich und schwer zu erklären ist.“
Als ich diesen kleinen Text in unterschiedlichen Foren
veröffentlichte, erhielt ich zahlreiche Rückmeldungen.
Viele glaubten, dass lediglich sie dieses Licht, diesen Nebel, diese
leuchtenden Muster sähen.
Das zeigt wie wichtig es ist, darüber zu sprechen, sich mitzuteilen, zu
spüren, dass es nicht die eigene Überreaktion, Anstellerei ist, oder
womit einzelne Betroffene konfrontiert werden, wenn sie überhaupt darüber
reden.
Es ist wichtig, zu wissen, dass es vielen, wenn nicht allen, die eine
Netzhauterkrankung haben, also auch Usherbetroffenen, ähnlich geht.
Eine Frau schrieb mir, dass sie in dem hellen Schein, den sie tagsüber vor
sich hätte, Muster sähe. Es seien immer dreidimensionale Muster, ob nun Würfel,
Kacheln oder ovale Dinge.
Weiterhin berichtete sie, dass sie seit sie vollständig erblindet sei, Probleme
mit dem Ein- und Durchschlafen habe.
Der Grund sei ein so helles Licht, sie komme sich vor wie früher, wenn sie mit
ihrem Auto im Nebel gefahren und ihr ein blendendes Auto entgegengekommen
sei.
Dieses helle bis grelle Scheinwerfer- oder auch Flutlicht in der Nacht
scheinen viele späterblindete Personen zu kennen und es raubt ihnen den
Schlaf, manchen macht es regelrecht Angst.
Eine weitere Person beschrieb, es sei ab und an so, als schaue sie durch ein
Kaleidoskop, es entstünden ständig neue Farben und Formen.
Manchmal sei es so als stünde sie in einem sonnendurchfluteten Nebel und ein
anderes Mal zögen sich drehende, leuchtend blaue, „Lichtwolken“ vor
ihrem (inneren) Auge vorbei, ähnlich wie ein Polizei- oder
Feuerwehr-Blaulicht.
Der Diplompsychologe Oliver Nadig, der 1999 eine Diplomarbeit mit
dem Titel „Visuelle Phantomwahrnehmungen bei sehbehinderten
und blinden Menschen“ schrieb, erläuterte mir in einer Mail folgendes
zu dieser Thematik:
„Insbesondere Netzhautpatienten (RP, AMD, Zapfen-/Stäbchendystrophie)
berichten häufiger von zwei Phänomenen:
Tatsächlich vorhandene helle Lichtquellen können ein Minuten bis
Stunden lang andauerndes „Nachbild“ bei ihnen auslösen. Das bedeutet: Du hältst
Dich kurz in einem hell erleuchteten Treppenhaus auf, kommst in eine dunkle
Wohnung, hast aber noch für längere Zeit den Hell-Eindruck des
Treppenhauses vor Augen.
Als Zweites berichten Netzhautpatienten aber auch über spontane Wahrnehmung von
Helligkeit oder einfachen Mustern – meist regelmäßige Gitter oder Kreise,
ohne dass die Augen vorher mit einer Lichtquelle konfrontiert worden wären.
Unter den Befragten für meine Diplomarbeit befand sich jemand, um den
herum es immer hell wurde, wenn er sich entspannt zum Schlafen ins Bett gelegt
hat. Das Phänomen dauerte Stunden an und bescherte ihm massive
Schlafstörungen.“
Weiterhin schrieb Oliver Nadig mir, dass pro Jahr leider nur wenige
Fachartikel zu diesem Thema erschienen. Bahnbrechendes sei wohl seit Abschluss
seiner Diplomarbeit nicht herausgefunden worden.
In der Broschüre des ABSV „Die Sehbehinderung in meinem Kopf“
erläutert Oliver Nadig über seine Forschung zu diesem Thema:
„Phantomwahrnehmungen: Viele von Ihnen werden bereits einmal von dem Phänomen
gehört haben, dass Amputationspatienten über Schmerzen in den verlorenen
Körperteilen klagen.
Weit weniger bekannt ist, dass auch Sehbehinderte Wahrnehmungen erleben,
die weder durch reale Reitze hervorgerufen werden, noch
Vorstellungsprodukte oder Erinnerungen darstellen.
In meiner Diplomarbeit „Visuelle Phantomwahrnehmungen bei sehbehinderten
und blinden Menschen“ wird eine Vielzahl solcher Erlebnisse
beschrieben.
Wie muss man sich eine visuelle Phantomwahrnehmung vorstellen?
Die von mir Befragten schildern eine unglaubliche Bandbreite von Bildern,
von Flecken und Farben, über Monsterfratzen und gleissende Wolken,
bis zu sehr konkreten Bildern.“
Aus:
„Die Sehbehinderung in meinem Kopf“
„Was geht in Menschen vor, die mit einer Sehbehinderung konfrontiert
sind?“
Herausgeber: Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin, gegründet
1874 e.V.
Erscheinungsjahr circa 2005/2006, Idee und Redaktion Volker Lenk
Weiterhin regt Oliver Nadig in dieser Broschüre an:
„Nicht nur das Personal der Universitätsaugenkliniken sondern auch
niedergelassene Ärzte und Psychologen müssten über das Phänomen visueller
Pseudohalluzinationen informiert sein, sind es aber häufig nicht.
Betroffene Menschen, die medizinische oder psychologische Hilfe suchen, haben
aber nicht nur ein Recht darauf ernst genommen sondern auch kompetent beraten
zu werden.“
Dies kann ich nur unterstützen.
Spüren die Betroffenen, dass sie ernst genommen werden, können sie diesen
Phänomenen gelassener begegnen und dies allein führt zu innerer Entspannung.
Doch nicht nur Ärzte und PsychologInnen sondern auch PädagogInnen,
BeraterInnen und MobilitätstrainerInnen sollten über die Existenz dieser
Lichtwahrnehmungen informiert sein, damit sie Betroffene beruhigen, ihnen
das Gefühl vermitteln können, dass dies normal ist, dass dies zum
Erblindungsprozess gehört, dass sie nicht übernervös, zu abwehrend o.ä.
sind.
Entspannungstraining und/oder gemeinsame Erfahrungsaustauschgruppen
wären zusätzlich hilfreich.
Heike Herrmann-Hofstetter
Psychotherapeutische Heilpraktikerin und Supervisorin
Tel: 06421-166734
Mail: info@Captain-Handicap.de
Web: www.captain-handicap.de