zum Menü zum Textanfang
zum Menü

Sieben Jahre „Captain-Handicap“


Am 01.07.2007 Betrat ich mit meinem Beratungskonzept „Captain-Handicap“ die Bühne der Selbstständigkeit!
Die Vorarbeit dazu begann bereits vor zehn Jahren.

Im Jahr 2002 nahm ich, nach fünfjährigem Ringen, einen Orientierungs- und Mobilitätsunterricht in Anspruch und entschied mich endlich, meinen Weg weiterhin mit dem weißen Langstock zu gehen.
Das klingt sehr gut, denn ohne diesen weißen Langstock hätte ich meinen Weg nicht weiter souverän und selbstständig gehen können, zumindest nicht außerhalb meiner vier Wände.
Somit sind es inzwischen über 15 Jahre, in denen ich mich auf verschiedenen Ebenen mit der thematik meiner und allgemeiner fortschreitender Sehbehinderung auseinander setze.

Fünf Jahre lang habe ich mit mir gerungen, nachdem ich nach der Absolvierung meines Studiums, den größten Teil der Kindererziehung und einem Umzug plötzlich merkte, dass ich kaum noch etwas sah.
Ich konnte mich letztendlich außerhalb meiner Wohnung kaum noch orientieren, hatte aber das Gefühl diesen Schritt, mich mit dem weißen Langstock als blinde Frau zu outen, nicht gehen zu können.
Ich suchte Beratung, Unterstützung, Hilfe und fand sie nicht, außer schulterklopfenden Ratschlägen: Nun nimm den Stock doch endlich, ist doch auch besser bzgl. Der Versicherung.
Es ist mir in dieser Zeit klar geworden, dass es bzgl. Dieser Auseinandersetzung, sich mit dem weißen Stock zu outen, oder, zu dem Thema „Bewältigung von Behinderung“ allgemein, nur sehr wenige Beratungsangebote gibt.
Während meiner Ausbildung zur psychotherapeutischen Heilpraktikerin konnte ich meine Auffassung auch fundiert belegen, dass es innerhalb einer therapeutischen Ausbildung keinerlei Ausbildung zu den Themen „was bedeutet eine Behinderung für einen Menschen im Bezug auf die seelische Verarbeitung“. Gibt. Somit haben Therapeuten kein Handwerkszeug, dieser Bewältigung zu begegnen, sie müssen sich innnerhalb ihrer Ausbildung nicht mit der Frage beschäftigen, was eine Behinderung ggf. für sie persönlich bedeuten würde.
Wer die Folgen von Missbrauch behandeln will, sollte sich in die seelischen Folgen von Missbrauch hinein fühlen, wer die Folgen von Schocksituationen behandeln will, sollte sich in deren seelischen Aspekte hinein fühlen.
Das ICD-10 kennt aber lediglich posttraumatische Belastungsstörungen aufgrund von Krieg, Folter, Flugzeugabsturz und sonstigen Schicksalsschlägen, Behinderung kommt dort nicht vor, wie insgesamt nicht im gesamten Abschnitt F4, der sich mit psychischen Belastungssituationen beschäftigt.

F4 Neurotische Belastungsstörungen und somatoforme Störungen

Fragen hierzu während meiner Ausbildung wurden mir mit dem Verweis auf die Anpassungsstörungen beantwortet, diese sind:

F 43.2 Anpassungsstörung
F 43.8 sonstige Reaktionen auf schwere Belastungen
F 43.9 nicht näher bezeichnete Reaktion auf schwere Belastung

So ist das Erleben häufig dasjenige, dass Therapeuten mit dem Thema seelische Bewältigung von Behinderung vollkommen überfordert sind und diese oftmals entweder herabreden oder überbewerten.
Ich behaupte nicht, dass eine Behinderung notwendigerweise therapiert werden muß, also zu einer psychischen Störung führt, ebenso wenig wie Missbrauch oder eine Trennung notwendigerweise therapiert werden muß, also zu einer psychischen Störung führen. Die edwaigen psychischen Folgen eines Missbrauches oder einer Trennung sind aber im ICD-10 aufgeführt, es werden also Therapieformen zu diesen Themen entwickelt und es können Therapien expliziet zu der Verarbeitung dieser Themen verschrieben werden. Dies ist bzgl. der Verarbeitung einer Behinderung nicht möglich, da keine Kodierung im ICD-10 hierzu vorliegt. Es muß also eine Anpassungsstörung wie oben angegeben diagnostiziert werden, welche eine Therapie im weitesten Sinne zur folge hat.

Ich schrieb 2002 während meines Orientierungs- und Mobilitätsunterrichtes, zur Bewältigung meiner vielen Gefühle, zwei Artikel und veröffentlichte diese in vielen Zeitschriften und 2009 letztendlich in meinem Hörbuch „Blinde-Schönheit“, welches sich mit der Auseinandersetzung „Outen als blinde Frau mit Langstock und Attraktivität“ beschäftigt.

Den Artikel

„Wiedergewonnene Souveränität durch die Entscheidung den Blindenstock zu benutzen obwohl ich immer Angst hatte gerade diese Souveränität dadurch zu verlieren“

der 2003 erstmals erschien,

finden Sie hier

Dieser Artikel war der Start zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Thema, Seelische Bewältigung von Sehbehinderung und /oder Blindheit.
Ich bekam so viele Reaktionen auf diesen Artikel. Diese Reaktionen sind in zwei Richtungen einteilbar.
Einerseits wurde ich geradezu attakiert mit Vorwürfen wie: „Es ist nicht richtig, dass Du Deine persönliche Auseinandersetzung so öffentlich preis gibst, Du schadest den blinden Menschen, denen es überwiegend überhaupt nicht so geht.
Die andere seite der Reaktionen ist mit dem Wort Dankbarkeit zusammen zu fassen. Dankbarkeit dafür, dass es endlich einmal jemand ausspricht. Mir sind zwei Reaktionen in Erinnerung geblieben, eine Dame, die mir erzählte, sie habe diesen Artikel ihren erwachsenen Kindern vorgespielt und ihnen gesagt, so geht es mir, hier ist es einmal ausgedrückt. Eine junge Frau sprach mir auf den AB und sprang dabei beinahe vor Aufregung und sagte: Sie würde sich so sehr freuen, dass es endlich einmal jemand ausspricht, da sie, wenn sie Vorträge von blinden Menschen höre, manchmal das Gefühl habe, sie müsse zu diesen Menschen gehen und ihnen gratulieren dass sie blind seien.

Den Artikel „Jetzt bin ich ein Schmetterling“, den ich, nach einer ersten großen Runde durch die Stadt, allein mit weißem Stock, in einem Guss, schrieb, kopiere ich hier hinein sowie eine sehr schöne Reaktion auf diesen Artikel:

Jetzt bin ich ein Schmetterling

Was ist passiert? Ich habe nach langem Zaudern geschafft, mich als Behinderte zu outen, habe mich über die wiedergewonnene Souveränität durch meinen Mobilitäts- und Orientierungsunterricht gefreut und gleichzeitig unter der Rolle der geouteten Behinderten gelitten.
Ich genoss meinen erweiterten Radius, litt aber viel mehr unter der zunehmenden Blindheit. Doch langsam und vor allem dadurch, dass ich meine Gefühle durch das Schreiben von Artikeln verarbeitete, kam ich in meiner neuen Rolle an.
Das vorläufige Ergebnis ist, dass ich wieder viel mehr laufe, ich traue mir mehr und mehr zu und ich bin vor allem wieder ich, wenn ich unterwegs bin. Ich erkunde neue Wege, ich achte kaum noch drauf, was um mich herum bezüglich der Blindheit passiert, ich bin ganz bei mir und dann passiert auch nicht viel um mich herum bezüglich der Blindheit, weil ich sie ja nicht in den Vordergrund stelle.
„Übergangsriten“ und „Entpuppung“, habe ich heute beim Laufen gedacht!
Ich habe mich lange an der Definition der (schlecht)Sehenden festgekrallt, das war die „Raupe“!
Ich habe mich an dieser Definition so lange festgekrallt, bis ich innerhalb dieser Definition nicht mehr weiterkam!
Dann habe ich mich auf den Blindenstock eingelassen und mich zunächst über die wiedergewonnene Souveränität gefreut. Dann kam aber ersteinmal dieses Gefühl der Ohnmacht. Ich konnte nicht mehr die (schlecht)Sehende sein, ich konnte mit dem (schlecht)Sehen nicht mehr agieren. Aus diesem Zustand heraus nahm ich den Blindenstock, freute mich über die erweiterte Mobilität, konnte aber die Rolle der blinden Frau nicht annehmen. Ich sah nur das, was ich jetzt nicht mehr konnte. Fühlte beim Laufen nur meine Blindheit, war total fixiert auf diese Blindheit, stellte sie mir und damit anderen zur Schau und litt darunter. Es begann die bei den Übergangsriten so bezeichnete Übergangs- bzw. Umwandlungsphase. Der eine Zustand wird verlassen, eine Umwandlungsphase beginnt und dann doggt man an einen neuen Zustand an, wird quasi in diesen hineingeboren. Als neue gewandelte Person hineingeboren. Bei der Raupe nennt sich dieser Zustand Verpuppung!
Dieser Zustand, diese Phase war sehr schwer, ich fühlte die Trennung von der Definition der (schlecht)Sehenden und konnte den neuen Zustand der Blinden lediglich mit Defiziten und Ängsten füllen. Was entstand war ein tiefes Loch, eine Leere und sehr große Trauer bis hin zu Resignation. In dieser Phase schrieb ich den Artikel: „RP Trauerarbeit, Doch so schlimm, wie befürchtet?“! Das Schreiben hat mir sehr viel geholfen, ich konnte meine ganzen Gefühle loswerden, verarbeiten und kam dadurch entschieden weiter!
Zunächst stellte ich mir die Frage: „Was kann ich als blinde Frau eigentlich machen?!“ Ich bin immer noch traurig und leide darunter, dass ich vieles, sehr vieles und als behinderte Frau noch viel mehr, nicht machen kann, was nichtbehinderten Menschen möglich ist. Aber ich entdecke jetzt, was ich trotzdem noch machen k a n n ! Es herrscht jetzt nicht mehr das n i c h t können vor in meinem Denken, sondern ich entdecke das K ö n n e n !

Ich habe angedockt am Zustand der blinden Frau, ich erkenne, entdecke, merke, was doch alles möglich ist und was vor allem jetzt, da ich den Stock benutze noch viel möglicher ist, als in den letzten Jahren des Festhaltens am Zustand des (schlecht)Sehens!
Ich habe mir ein Tandem gekauft und fahre tatsächlich auch damit! Ich habe begonnen zu reiten! Ich gehe wieder mehr und immer wieder mehr in die Stadt in Geschäfte und irgendwann traue ich mich auch allein in ein Café! Es stimmt zwar, dass ich dort wesentlich weniger machen kann als Sehende aber es stimmt auch, dass ich denke, dass ich deswegen dort auch nichts zu suchen hätte. Die Zeit der Umwandlung ist vorbei! Ich habe angedockt, bin neu geboren im Zustand der blinden Frau! Ich bin also jetzt ein Schmetterling, ein blinder zwar, aber ein Schmetterling!

Aus: „Blinde-Schönheit“ Hörbuch ISBN 978-3-00-028653-7
Heike Herrmann

Hallo, liebe Frau Herrmann,

besten Dank für Ihre "Schmetterling"-Sendung, die mir sehr gut gefallen hat. Die psychische Metamorphose steckt eigentlich in jedem Menschen, nur Sie haben die Gabe, diese wahrzunehmen und die Phantasie, sie allgemeinverständlich für "Sehende" zu formulieren.

Franz Kafka (1883-1924) beschrieb diesen seelischen Verpuppungsprozess schon sehr eindrücklich in seiner Erzählung "Die Verwandlung" anhand des "Menschen-Käfers" Gregor Samsa. Eine unbedingt lesenswerte Lektüre, sofern nicht schon hinlänglich bekannt.

Es ist für mich immer wohltuend zu erfahren, dass auch andere Menschen, womöglich mir völlig unbekannte, eine ähnliche Bedrängung durch die Außenwelt spüren, der sie sich mit allen möglichen Hilfsmitteln entledigen müssen, um das Gefühl der Freiheit wenigstens zeitweise genießen zu können. Diese Freiheit ist, wie Sie wissen, hart erarbeitet und will erhalten sein.
Mit freudigem Flügelschlag von Schmetterling zu Schmetterling,

Im Jahr 2004 begann ich mit meiner fünfjährigen Ausbildung zur Klientenzentrierten Beraterin und Supervisorin, dies ist eine traumaorientierte Ausbildung.
Ich bin der Meinung, dass eine Behinderung eine traumatisierende Erfahrung sein kann.
Was heißt Trauma?
Trauma heißt, es geschieht etwas mit mir, das müsste ich bewältigen aber es gelingt mir nicht, somit bin ich gezwungen die seelischen Auswirkungen dessen, was mir geschieht, zu verdrängen.
Ich bin nicht in der Lage zu Bewältigen, die Bewältigungsstrategien brechen bzgl. Dieses Ereignisses zusammen.

Trauma ist die Folge auf ein schockierendes Erlebnis welches nicht bewältigt werden kann und dessen seelischen Auswirkungen aus dem Bewusstsein verdrängt werden müssen.
Nicht das Erlebnis selbst ist das Trauma sondern die seelischen Auswirkungen auf das Erlebnis ist das Trauma, das Erlebnis selbst nennt man somit traumatisierend.

Menschen mit einer Behinderung können die seelischen Auswirkungen dieser Behinderung meist nicht ver- und bearbeiten, da sie nicht abgeholt werden, da es kaum Therapeuten, Freunde, Familienmitglieder gibt, die die seelische Verarbeitung einer Behinderung in ihrer gesamten Breite und Tiefe aushalten. Ohne Getragen sein ist aber die Bearbeitung von traumatisierenden Ereignissen nicht möglich, allein schafft dies niemand.
Menschen mit Behinderung müssen meist ihre Umwelt abholen, „keine Angst, ich schaff das schon, ist alles gar nicht so schlimm, Du brauchst keine Angst vor meiner Behinderung zu haben“.

Ich beschloß während dieser traumaorientierten Ausbildung, welche eine Selbstentwicklungsausbildung ist, die seelische Verletzung zu bearbeiten, welche die fortschreitende Sehbehinderung und drohende Erblindung für mich bedeutet.
Eine Selbstentwicklungsausbildung geht davon aus, dass nur wer seine eigenen Grenzen und die Verletzungen an diesen Grenzen kennt und bearbeitet, die Grenzen anderer bearbeiten und mit tragen kann.
Somit bearbeitete ich meine Grenze bzgl. Meiner Behinderung sowie die Absolutheit, die darin steckt.
Ein Ergebnis dieser Selbstentwicklungsausbildung ist das Angebot, welches tief gefühlt und genau so gemeint ist:

„Glücklich leben mit einer fortschreitenden Sehbehinderung“

Dies ist also keine Provokation sondern ich bin davon überzeugt, dass fortschreitende Sehbehinderung und Blindheit, nachdem deren seelischen Kränkungen durchfühlt sind, nicht an einem glücklichen Leben hindern sondern dass es möglich ist, nach der Verarbeitung der entsprechenden Gefühle, Blindheit als das wahrzunehmen, was es ist, etwas ziemlich unpraktisches, nicht mehr aber auch nicht weniger!

Durch diese Ausbildung und anhand von begleitender Supervision während meiner mehrjährigen Tätigkeit innerhalb einer psychologischen Beratungsstelle in Marburg entwickelte ich mein Beratungskonzept

„Captain-Handicap“ Souverän leben mit einer Behinderung

Dieses Beratungskonzept ist auf dieser Homepage nachzulesen.

Natürlich wird innerhalb meiner Therapien niemand von mir gezwungen an sein Trauma heran zu gehen. Wenn ich aber während meiner Seminare und innerhalb von Gruppen die sieben Bewältigungsphasen auf den Boden lege, dann bewirken die Worte

Verleugnen – zusammenbrechen – anerkennen – trauern – verarbeiten – neu aufbauen – wieder glücklich werden

So unglaublich viel und es geht so tief wie es eben geht.

Das Seminar

„Glücklich leben mit einer Behinderung“

gehört zu meinem Grundlagenangebot und ich möchte einmal den umgekehrten Weg gehen.
Ich lade an diesem Seminar Interessierte ein, sich mit mir in Verbindung zu setzen.
Sollten sich genügend Interessierte melden, können wir einen gemeinsamen Termin in Frankfurt zur Durchführung des Seminares finden.

Ich bin gespannt!


Setzen sie sich mit mir in Verbindung

zurück zum Textanfang zum Menü zur Startseite

© Heike Herrmann-Hofstetter 2007 - 2024