Im Jahr 2002 nahm ich, nach fünfjährigem Ringen, einen Orientierungs-
und Mobilitätsunterricht in Anspruch und entschied mich endlich, meinen
Weg weiterhin mit dem weißen Langstock zu gehen.
Das klingt sehr gut, denn ohne diesen weißen Langstock hätte ich meinen
Weg nicht weiter souverän und selbstständig gehen können, zumindest
nicht außerhalb meiner vier Wände.
Somit sind es inzwischen über 15 Jahre, in denen ich mich auf verschiedenen
Ebenen mit der thematik meiner und allgemeiner fortschreitender
Sehbehinderung auseinander setze.
Fünf Jahre lang habe ich mit mir gerungen, nachdem ich nach der
Absolvierung meines Studiums, den größten Teil der Kindererziehung und
einem Umzug plötzlich merkte, dass ich kaum noch etwas sah.
Ich konnte mich letztendlich außerhalb meiner Wohnung kaum noch
orientieren, hatte aber das Gefühl diesen Schritt, mich mit dem weißen
Langstock als blinde Frau zu outen, nicht gehen zu können.
Ich suchte Beratung, Unterstützung, Hilfe und fand sie nicht, außer
schulterklopfenden Ratschlägen: Nun nimm den Stock doch endlich, ist
doch auch besser bzgl. Der Versicherung.
Es ist mir in dieser Zeit klar geworden, dass es bzgl. Dieser
Auseinandersetzung, sich mit dem weißen Stock zu outen, oder, zu dem
Thema „Bewältigung von Behinderung“ allgemein, nur sehr wenige
Beratungsangebote gibt.
Während meiner Ausbildung zur psychotherapeutischen Heilpraktikerin
konnte ich meine Auffassung auch fundiert belegen, dass es innerhalb
einer therapeutischen Ausbildung keinerlei Ausbildung zu den Themen „was
bedeutet eine Behinderung für einen Menschen im Bezug auf die seelische
Verarbeitung“. Gibt. Somit haben Therapeuten kein Handwerkszeug, dieser
Bewältigung zu begegnen, sie müssen sich innnerhalb ihrer Ausbildung
nicht mit der Frage beschäftigen, was eine Behinderung ggf. für sie
persönlich bedeuten würde.
Wer die Folgen von Missbrauch behandeln will, sollte sich in die
seelischen Folgen von Missbrauch hinein fühlen, wer die Folgen von
Schocksituationen behandeln will, sollte sich in deren seelischen
Aspekte hinein fühlen.
Das ICD-10 kennt aber lediglich posttraumatische Belastungsstörungen
aufgrund von Krieg, Folter, Flugzeugabsturz und sonstigen
Schicksalsschlägen, Behinderung kommt dort nicht vor, wie insgesamt
nicht im gesamten Abschnitt F4, der sich mit psychischen
Belastungssituationen beschäftigt.
Fragen hierzu während meiner Ausbildung wurden mir mit dem Verweis auf die Anpassungsstörungen beantwortet, diese sind:
So ist das Erleben häufig dasjenige, dass Therapeuten mit dem Thema
seelische Bewältigung von Behinderung vollkommen überfordert sind und
diese oftmals entweder herabreden oder überbewerten.
Ich behaupte nicht, dass eine Behinderung notwendigerweise therapiert
werden muß, also zu einer psychischen Störung führt, ebenso wenig wie
Missbrauch oder eine Trennung notwendigerweise therapiert werden muß,
also zu einer psychischen Störung führen. Die edwaigen psychischen
Folgen eines Missbrauches oder einer Trennung sind aber im ICD-10
aufgeführt, es werden also Therapieformen zu diesen Themen entwickelt
und es können Therapien expliziet zu der Verarbeitung dieser Themen
verschrieben werden. Dies ist bzgl. der Verarbeitung einer Behinderung
nicht möglich, da keine Kodierung im ICD-10 hierzu vorliegt. Es muß also
eine Anpassungsstörung wie oben angegeben diagnostiziert werden, welche
eine Therapie im weitesten Sinne zur folge hat.
Ich schrieb 2002 während meines Orientierungs- und Mobilitätsunterrichtes, zur Bewältigung meiner vielen Gefühle, zwei Artikel und veröffentlichte diese in vielen Zeitschriften und 2009 letztendlich in meinem Hörbuch „Blinde-Schönheit“, welches sich mit der Auseinandersetzung „Outen als blinde Frau mit Langstock und Attraktivität“ beschäftigt.
Den Artikel
der 2003 erstmals erschien,
Dieser Artikel war der Start zu einer öffentlichen Auseinandersetzung
mit dem Thema, Seelische Bewältigung von Sehbehinderung und /oder
Blindheit.
Ich bekam so viele Reaktionen auf diesen Artikel. Diese Reaktionen sind
in zwei Richtungen einteilbar.
Einerseits wurde ich geradezu attakiert mit Vorwürfen wie: „Es ist nicht
richtig, dass Du Deine persönliche Auseinandersetzung so öffentlich
preis gibst, Du schadest den blinden Menschen, denen es überwiegend
überhaupt nicht so geht.
Die andere seite der Reaktionen ist mit dem Wort Dankbarkeit zusammen zu
fassen. Dankbarkeit dafür, dass es endlich einmal jemand ausspricht. Mir
sind zwei Reaktionen in Erinnerung geblieben, eine Dame, die mir
erzählte, sie habe diesen Artikel ihren erwachsenen Kindern vorgespielt
und ihnen gesagt, so geht es mir, hier ist es einmal ausgedrückt. Eine
junge Frau sprach mir auf den AB und sprang dabei beinahe vor Aufregung
und sagte: Sie würde sich so sehr freuen, dass es endlich einmal jemand
ausspricht, da sie, wenn sie Vorträge von blinden Menschen höre,
manchmal das Gefühl habe, sie müsse zu diesen Menschen gehen und ihnen
gratulieren dass sie blind seien.
Den Artikel „Jetzt bin ich ein Schmetterling“, den ich, nach einer ersten großen Runde durch die Stadt, allein mit weißem Stock, in einem Guss, schrieb, kopiere ich hier hinein sowie eine sehr schöne Reaktion auf diesen Artikel:
Was ist passiert? Ich habe nach langem Zaudern geschafft,
mich als Behinderte zu outen, habe mich über die wiedergewonnene
Souveränität durch meinen Mobilitäts- und Orientierungsunterricht
gefreut und gleichzeitig unter der Rolle der geouteten Behinderten
gelitten.
Ich genoss meinen erweiterten Radius, litt aber viel mehr unter der
zunehmenden Blindheit. Doch langsam und vor allem dadurch, dass ich
meine Gefühle durch das Schreiben von Artikeln verarbeitete, kam ich in
meiner neuen Rolle an.
Das vorläufige Ergebnis ist, dass ich wieder viel mehr laufe, ich traue
mir mehr und mehr zu und ich bin vor allem wieder ich, wenn ich
unterwegs bin. Ich erkunde neue Wege, ich achte kaum noch drauf, was um
mich herum bezüglich der Blindheit passiert, ich bin ganz bei mir und
dann passiert auch nicht viel um mich herum bezüglich der Blindheit,
weil ich sie ja nicht in den Vordergrund stelle.
„Übergangsriten“ und „Entpuppung“, habe ich heute beim Laufen gedacht!
Ich habe mich lange an der Definition der (schlecht)Sehenden
festgekrallt, das war die „Raupe“!
Ich habe mich an dieser Definition so lange festgekrallt, bis ich
innerhalb dieser Definition nicht mehr weiterkam!
Dann habe ich mich auf den Blindenstock eingelassen und mich zunächst
über die wiedergewonnene Souveränität gefreut. Dann kam aber ersteinmal
dieses Gefühl der Ohnmacht. Ich konnte nicht mehr die (schlecht)Sehende
sein, ich konnte mit dem (schlecht)Sehen nicht mehr agieren. Aus diesem
Zustand heraus nahm ich den Blindenstock, freute mich über die
erweiterte Mobilität, konnte aber die Rolle der blinden Frau nicht
annehmen. Ich sah nur das, was ich jetzt nicht mehr konnte. Fühlte beim
Laufen nur meine Blindheit, war total fixiert auf diese Blindheit,
stellte sie mir und damit anderen zur Schau und litt darunter. Es begann
die bei den Übergangsriten so bezeichnete Übergangs- bzw.
Umwandlungsphase. Der eine Zustand wird verlassen, eine Umwandlungsphase
beginnt und dann doggt man an einen neuen Zustand an, wird quasi in
diesen hineingeboren. Als neue gewandelte Person hineingeboren. Bei der
Raupe nennt sich dieser Zustand Verpuppung!
Dieser Zustand, diese Phase war sehr schwer, ich fühlte die Trennung von
der Definition der (schlecht)Sehenden und konnte den neuen Zustand der
Blinden lediglich mit Defiziten und Ängsten füllen. Was entstand war ein
tiefes Loch, eine Leere und sehr große Trauer bis hin zu Resignation. In
dieser Phase schrieb ich den Artikel: „RP Trauerarbeit, Doch so schlimm,
wie befürchtet?“! Das Schreiben hat mir sehr viel geholfen, ich konnte
meine ganzen Gefühle loswerden, verarbeiten und kam dadurch entschieden
weiter!
Zunächst stellte ich mir die Frage: „Was kann ich als blinde Frau
eigentlich machen?!“ Ich bin immer noch traurig und leide darunter, dass
ich vieles, sehr vieles und als behinderte Frau noch viel mehr, nicht
machen kann, was nichtbehinderten Menschen möglich ist. Aber ich
entdecke jetzt, was ich trotzdem noch machen k a n n ! Es herrscht
jetzt nicht mehr das n i c h t können vor in meinem Denken, sondern
ich entdecke das K ö n n e n !
Ich habe angedockt am Zustand der blinden Frau, ich erkenne,
entdecke, merke, was doch alles möglich ist und was vor allem jetzt, da
ich den Stock benutze noch viel möglicher ist, als in den letzten Jahren
des Festhaltens am Zustand des (schlecht)Sehens!
Ich habe mir ein Tandem gekauft und fahre tatsächlich auch damit! Ich
habe begonnen zu reiten! Ich gehe wieder mehr und immer wieder mehr in
die Stadt in Geschäfte und irgendwann traue ich mich auch allein in ein
Café! Es stimmt zwar, dass ich dort wesentlich weniger machen kann als
Sehende aber es stimmt auch, dass ich denke, dass ich deswegen dort auch
nichts zu suchen hätte. Die Zeit der Umwandlung ist vorbei! Ich habe
angedockt, bin neu geboren im Zustand der blinden Frau! Ich bin also
jetzt ein Schmetterling, ein blinder zwar, aber ein Schmetterling!
Aus: „Blinde-Schönheit“ Hörbuch ISBN 978-3-00-028653-7
Heike Herrmann
Hallo, liebe Frau Herrmann,
besten Dank für Ihre "Schmetterling"-Sendung, die mir sehr gut gefallen hat. Die psychische Metamorphose steckt eigentlich in jedem Menschen, nur Sie haben die Gabe, diese wahrzunehmen und die Phantasie, sie allgemeinverständlich für "Sehende" zu formulieren.
Franz Kafka (1883-1924) beschrieb diesen seelischen Verpuppungsprozess schon sehr eindrücklich in seiner Erzählung "Die Verwandlung" anhand des "Menschen-Käfers" Gregor Samsa. Eine unbedingt lesenswerte Lektüre, sofern nicht schon hinlänglich bekannt.
Es ist für mich immer wohltuend zu erfahren, dass auch andere
Menschen, womöglich mir völlig unbekannte, eine ähnliche Bedrängung
durch die Außenwelt spüren, der sie sich mit allen möglichen
Hilfsmitteln entledigen müssen, um das Gefühl der Freiheit wenigstens
zeitweise genießen zu können. Diese Freiheit ist, wie Sie wissen, hart
erarbeitet und will erhalten sein.
Mit freudigem Flügelschlag von Schmetterling zu Schmetterling,
Im Jahr 2004 begann ich mit meiner fünfjährigen Ausbildung zur
Klientenzentrierten Beraterin und Supervisorin, dies ist eine
traumaorientierte Ausbildung.
Ich bin der Meinung, dass eine Behinderung eine traumatisierende
Erfahrung sein kann.
Was heißt Trauma?
Trauma heißt, es geschieht etwas mit mir, das müsste ich bewältigen aber
es gelingt mir nicht, somit bin ich gezwungen die seelischen
Auswirkungen dessen, was mir geschieht, zu verdrängen.
Ich bin nicht in der Lage zu Bewältigen, die Bewältigungsstrategien
brechen bzgl. Dieses Ereignisses zusammen.
Trauma ist die Folge auf ein schockierendes Erlebnis welches nicht
bewältigt werden kann und dessen seelischen Auswirkungen aus dem
Bewusstsein verdrängt werden müssen.
Nicht das Erlebnis selbst ist das Trauma sondern die seelischen
Auswirkungen auf das Erlebnis ist das Trauma, das Erlebnis selbst nennt
man somit traumatisierend.
Menschen mit einer Behinderung können die seelischen Auswirkungen
dieser Behinderung meist nicht ver- und bearbeiten, da sie nicht
abgeholt werden, da es kaum Therapeuten, Freunde, Familienmitglieder
gibt, die die seelische Verarbeitung einer Behinderung in ihrer gesamten
Breite und Tiefe aushalten. Ohne Getragen sein ist aber die Bearbeitung
von traumatisierenden Ereignissen nicht möglich, allein schafft dies
niemand.
Menschen mit Behinderung müssen meist ihre Umwelt abholen, „keine Angst,
ich schaff das schon, ist alles gar nicht so schlimm, Du brauchst keine
Angst vor meiner Behinderung zu haben“.
Ich beschloß während dieser traumaorientierten Ausbildung, welche
eine Selbstentwicklungsausbildung ist, die seelische Verletzung zu
bearbeiten, welche die fortschreitende Sehbehinderung und drohende
Erblindung für mich bedeutet.
Eine Selbstentwicklungsausbildung geht davon aus, dass nur wer seine
eigenen Grenzen und die Verletzungen an diesen Grenzen kennt und
bearbeitet, die Grenzen anderer bearbeiten und mit tragen kann.
Somit bearbeitete ich meine Grenze bzgl. Meiner Behinderung sowie die
Absolutheit, die darin steckt.
Ein Ergebnis dieser Selbstentwicklungsausbildung ist das Angebot,
welches tief gefühlt und genau so gemeint ist:
„Glücklich leben mit einer fortschreitenden Sehbehinderung“
Dies ist also keine Provokation sondern ich bin davon überzeugt, dass fortschreitende Sehbehinderung und Blindheit, nachdem deren seelischen Kränkungen durchfühlt sind, nicht an einem glücklichen Leben hindern sondern dass es möglich ist, nach der Verarbeitung der entsprechenden Gefühle, Blindheit als das wahrzunehmen, was es ist, etwas ziemlich unpraktisches, nicht mehr aber auch nicht weniger!
Durch diese Ausbildung und anhand von begleitender Supervision während meiner mehrjährigen Tätigkeit innerhalb einer psychologischen Beratungsstelle in Marburg entwickelte ich mein Beratungskonzept
Dieses Beratungskonzept ist auf dieser Homepage nachzulesen.
Natürlich wird innerhalb meiner Therapien niemand von mir gezwungen an sein Trauma heran zu gehen. Wenn ich aber während meiner Seminare und innerhalb von Gruppen die sieben Bewältigungsphasen auf den Boden lege, dann bewirken die Worte
So unglaublich viel und es geht so tief wie es eben geht.
Das Seminar
„Glücklich leben mit einer Behinderung“
gehört zu meinem Grundlagenangebot und ich möchte einmal den
umgekehrten Weg gehen.
Ich lade an diesem Seminar Interessierte ein, sich mit mir in Verbindung
zu setzen.
Sollten sich genügend Interessierte melden, können wir einen gemeinsamen
Termin in Frankfurt zur Durchführung des Seminares finden.
Ich bin gespannt!
Setzen sie sich mit mir in Verbindung